Harald Ille
am
7. Februar 2011

Jean-Marc Reiser

Am 13. April würde der französische Satiriker und Zeichner Jean-Marc Reiser seinen siebzigsten Geburtstag feiern. Das Frankfurter Karikaturenmuseum widmet dem vor knapp dreißig Jahren gestorbenen Künstler die erste große Schau seiner – in Deutschland einst sehr umstrittenen – Werke weltweit. Die Feministin Alice Schwarzer, Reisers Freundin aus Pariser Zeiten, eröffnet sie.

Karikaturenmuseum zeigt größte Ausstellung über Jean-Marc Reiser

Frankfurt am Main (pia) Nein, nicht in Paris hängt sein Gesamtwerk. Natürlich nicht im Louvre, mon dieu! Und nur mit Warnhinweisen gekennzeichnet einzelne Blätter im Centre Pompidou. Jean-Marc Reiser, auf seine eigene Art französischer Nationalzeichner, hat seine größten Fans in Frankfurt. Zum siebzigsten Geburtstag schenkt ausgerechnet das feine Karikaturenmuseum dem 1983 Gestorbenen eine Werkschau – die allererste der Welt mit 240 zum Teil noch unveröffentlichten Werken. Dass es damit dem stolzen Paris ein kulturpolitisches Schnippchen schlägt, hätte den zeichnenden Provokateur sicherlich amüsiert. „Er provoziert noch immer, auch wenn er schon knapp dreißig Jahre tot ist“, sagt Bernd Fritz, Reisers deutscher Entdecker und Kurator der Schau. „Man stelle sich vor: Loriot wird 70, und die einzige Ausstellung wäre in Frankreich.“

Drastik als Hauptstilmittel

In ihrer nationalen Bedeutung sind Loriot und Jean-Marc Reiser durchaus vergleichbar, selbstverständlich mit einer völlig unterschiedlichen Vorstellung von Humor. „Reisers Hauptstilmittel ist die Drastik.“ Frauen sind bei ihm laut und hysterisch, Männer unrasiert und verfressen, beide zügellos in ihren Lüsten und Begierden – und niemand ist je eindeutig Opfer oder Täter. Am ehesten reicht das Werk des Frankfurters F.K. Waechter an ihn heran, der Reiser für einen der besten hielt, den die Welt der Komischen Kunst hervorgebracht hat.

Vom Campingplatz in die Buchläden

Auf einem französischen Campingplatz fällt dem späteren Titanic-Redakteur Bernd Fritz der erste „Reiser“ in die Hände. Ausgerechnet der Band „Phantasien“ – der wohl härteste, pornographischste. Sogleich packt die Übersetzerlust den studierten Romanisten: Fritz überklebt die französischen „Sprechblasen“ mit seinen deutschen Übertragungen und macht sich auf die Suche nach einem deutschen Verlag. Was immer schwierig ist – mit einem Werk, das Mitte der Achtziger Jahre immer wieder auf dem Index steht, ein recht aussichtsloses Unterfangen. Die „Titanic“ druckt zwar einige Bildergeschichten, aber erst der Semmel Verlach, der Brösels plattdeutschen Mopedrocker „Werner“ herausbringt, erkennt Reisers Genialität und veröffentlicht alle Bände – unzensiert. Prompt geraten einige unter Pornographieverdacht und werden beschlagnahmt. Erst 1988 ebbt die Indizierungswelle ab.

Den Pornographieverdacht widerlegt

Selbst die Stadt Kassel, in der mit der Caricatura die Wiege des Frankfurter Karikaturenmuseums steht, hat in den Achtzigern einen Feldzug gegen die Zeichnungen geführt. Buchkäufer beklagten sich bei der Stadt über die obszönen Bände, und ein Frauen-Stammtisch, der in Achim Frenz‚ Szenekneipe tagte, empörte sich über einen besonders derben Cartoon, den der heutige Leiter des Karikaturenmuseums an die Wand gepinnt hatte. Die Herausgeberin der Frauenzeitschrift „Emma“ glättete die Wogen wieder: Alice Schwarzer kannte Jean-Marc Reiser von ihrer gemeinsamen Zeit bei der Pariser Satirezeitschrift „Hara-Kiri“ – sie stuft Reisers Werk eben nicht als pornographisch, sondern als geradezu feministisch ein. „Jemand wie Reiser wäre gar nicht in der Lage gewesen, Pornos zu zeichnen“, schreibt Alice Schwarzer in der EMMA vom März 1988. „Ja, Jean Marc Reiser zeigt die Erbärmlichkeit der Menschen, auch die der Frauen. Aber er zeichnet gegen diese Erbärmlichkeit an. Er verschleiert sie nicht – auch und gerade dann nicht, wenn sie gegen sein eigenes Geschlecht spricht.“ Zu deutsch: Beide kommen gleich schlecht weg – vor allem der Mann…

Sanft wie ein Engel

Jean-Marc Reiser soll ein Mensch gewesen sein, der der völlige Kontrast zu den überaus widerlichen Figuren war, die er mit dem Stift zu einem kurzen Dasein erweckte: ein herzensguter Frauenschwarm, „sanft und freundlich wie ein Engel“. Am 13. April 1941 kam er im lothringischen Réhon zur Welt, der Vater bleibt unbekannt. Die alleinerziehende Mutter schickt das Kind zu Freunden in die Normandie, wo es seine Vorliebe fürs Zeichnen entdeckt. 1953 zieht die Mutter mit ihm nach Paris. Als Vierzehnjähriger heuert Reiser als Laufbursche bei einem Geschäft für Zeichenbedarf an und wird Hilfskraft bei einem Weinhändler, in dessen Firmenzeitschrift „La Gazette du Nectar“ er erstmals veröffentlicht. Im September 1963 gelingt ihm sein Durchbruch als Zeichner bei „Hara-Kiri“, später zeichnet er in deren Nachfolger „Charlie hebdo“ und dem Comic-Magazin „Pilote“. Auch mit Zeichnungen zur Solarenergie in einem Öko-Magazin und dem Plakat zu „Das große Fressen“ macht sich Reiser einen Namen. Selbst als Kolumnist der Zeitungen „Le Monde“ und „Nouvel Observateur“ tut er sich hervor.

Das Lachen bleibt im Halse stecken

„Seine Feder rennt und springt und spuckt, greift das Wesentliche heraus, vernachlässigt das Übrige. Kein Geschwätz, nur die ganz nackte Existenz“, schreibt sein Förderer François Cavanna. „Eine Idee muss ihn erst selbst zum Lachen bringen, er wird beim Zeichnen weiterlachen und mit Verwunderung beobachten, wie seiner Feder kleine Monster entspringen, witziger noch, als er sie sich ursprünglich vorgestellt hatte“, so der Gründer von „Hara-Kiri“ und „Charlie hebdo“. Natürlich bleibt einem meist das Lachen im Halse stecken, wenn er Kleinwüchsigkeit, Vergewaltigung oder Mord auf unerhörte Weise thematisiert und den Opfern immer einen potentiellen Rest eigener Täterschaft lässt. Sie, wie die Satiriker so schön sagen, bis zur Kenntlichkeit entstellt.

Von Staunen geblendet – das ist Reiser

„Er hat die Komik über alle Moral gestellt“, bilanziert der Kurator der Ausstellung, Bernd Fritz. 1983 erkrankt Reiser an Knochenkrebs, stirbt im November, ohne, dass seine Lebenskraft zuvor nachgelassen hätte. „Von Staunen geblendet, das ist Reiser“, schreibt sein Freund François Cavanna in der Begleitbroschüre zur Ausstellung. Und endet: „Ich mag von Reiser nicht in der Vergangenheit sprechen.“

Harald Ille

Harald Ille

Zwölf Jahre war ich Corporate Communicator einer deutschen Großstadt. Kommunale Kommunikation liegt mir weiter am Herzen.