Harald Ille
am
14. September 2004

Für gute Bücher klappern

Die „Kalbacher Klapperschlange“ ist das Highlight einer kleinen Kinderbuchmesse, die jedes Jahr im November im Frankfurter Stadtteil Kalbach stattfindet. Einhundert dreikäsehohe Bücherwürmer vergeben einen der begehrtesten Kinderbuchpreise der Republik. Es ist der einzige in Deutschland, der von einer reinen Kinder-Jury vergeben wird.

Eine Kinder-Jury vergibt begehrten Kinderbuchpreis

Frankfurt am Main (pia) Dienstagnachmittag, 16 Uhr, im dörflichen Frankfurter Stadtteil Kalbach: Ein halbes Dutzend Kinder sitzt auf der Rathaustreppe, die Nasen tief in dicken Büchern vergraben, kein Gameboy nervt, kein Ghettoblaster röhrt – alle lesen still vor sich hin. Schließlich sitzen die Nachwuchs-Reich- Ranickis hier nicht einfach so zum Spaß: Sie schmökern für einen der begehrtesten Kinderbuchpreise der Republik, die „Kalbacher Klapperschlange“. Das Reptil ist das Highlight der kleinen und weitgehend unbekannten Frankfurter Kinderbuchmesse. „Es ist der einzige Kinderbuchpreis Deutschlands mit einer reinen Kinder-Jury“, sagt strahlend das mittlerweile erwachsene Vorstandsmitglied des Kalbacher Kindervereins, Wehrhart Otto: „Das schätzen die Autoren sehr“. Keine Deutschlehrer, keine Pädagogen, keine Verlagsleiter streiten sich um das beste Buch – rund einhundert Kinder aus dem 5.700-Seelen-Ort Kalbach und dem noch kleineren Nachbarstadtteil Harheim vergeben den Preis. Hier zählen keine literaturwissenschaftlichen Abhandlungen, hier zählt nur eines: Gefällt die Geschichte ihren Leserinnen und Lesern – ja oder nein.

Es sind keine sprechblasenreichen Comics, in denen die Nachwuchskritiker blättern, auch japanische Mangas stehen nicht auf dem Programm. Die Kinder, die für die Kalbacher Klapperschlange lesen, arbeiten sich durch Romane von Isabel Allende, Wolfgang Holbein oder Roald Dahl. Und das mit Begeisterung: Die 13 Jahre alte Lisa-Marie etwa hat letztes Jahr 28 Bücher verschlungen, und Büchereileiterin Sonja Ranostaj kennt Kinder, die sogar 45 und mehr gelesen haben – „manche schaffen das“. 45 Kinderbücher stehen jedes Jahr zur Auswahl – und selbst die Vorauswahl aus mehr als hundert Titeln übernehmen die Kinder selbst. „Fünf Bücher müssen die Kinder innerhalb eines halben Jahres lesen“, so Sonja Ranostaj, die als Deutschlehrerin den ganzen Wettbewerb leitet und die als Kind selbst zu den Jurymitgliedern gehörte. „Und dann geben sie eine schriftliche Beurteilung ab. Sie müssen sich wirklich mit den Büchern beschäftigen.“ Drei dicke Ordner mit Rezensionen kommen so pro Jahr zusammen, „die wunderschön zu lesen sind“ – rund 1.000 Beurteilungen, die der Kalbacher Kinderverein auch als Buch herausgibt.

Das dürfte auch „Profilesern“ wie Iris Radisch oder Elke Heidenreich gefallen. Deren Katzenkrimi „Nero Corleone“ gewann übrigens die Klapperschlange 1996, Paul Maars „Neue Punkte für das Sams“ musste sich 1992 – zum einzigen Mal übrigens – die Klapperschlange mit Isolde Heynes „Wenn die Nachtigall verstummt“ teilen, und natürlich gewann auch Joanne K. Rowling: Ihr „Harry Potter und die Kammer des Schreckens“ räumte bei der 13. Klapperschlange im Jahr 2000 ab. Es sind also nicht nur deutschsprachige Autorinnen und Autoren, deren Werke durch Kalbacher Kinderhände gehen. Die Klapperschlangenjury schmökert sich auch durch die internationale Kinderliteraturszene. Im letzten Jahr zeichnete sie die US-amerikanische Fantasy-Schriftstellerin Victoria Hanley aus. Ihr Buch „Das Auge der Seherin“ erreichte fast die volle Punktzahl. „Ich denke, dass dieses Buch 20 Punkte verdient, weil es einfach super gut ist“, bilanzierte die 13 Jahre alte Jurorin Sophie. „Es geht um Liebe, Freundschaft, Treue und Verrat. Man fiebert richtig mit und wenn man einmal angefangen hat, kann man gar nicht mehr aufhören.“ Spannend also muss ein Siegerbuch sein und lehrreich auch. „Ich fand es gut, dass man so viel über das Leben und die Bedeutung von Macht im Mittelalter erfährt“, meinte der ebenfalls 13 Jahre alte Raphael – und schrieb 18 Punkte auf seinen Bewertungszettel.

Das Urteil ihrer kritischen kleinen Leser ist den Autoren sehr wichtig, und sie kommen auch gerne in die kleine Kalbacher Turnhalle, in der der Preis vergeben wird. „Cornelia Funke ging da im letzten Jahr richtig auf Tuchfühlung“, erinnert sich Wehrhart Otto. „400 Leute waren da, da passte kein weiterer mehr rein.“ Die mittlerweile international beachtete Schriftstellerin Funke gewann schon zum zweiten Mal in Kalbach und bedankte sich auf ihre Weise: mit einer selbst gemalten Klapperschlange, die jetzt die Urkunden für die Jury-Mitglieder ziert.

Gibt es dieses Jahr einen „Mode-Autor“, der schon vor dem Wettbewerb als Sieger feststünde? Die 13 Jahre alte Lisa-Marie, die seit sechs Jahren mitliest, einmal in der Woche in der Bücherei aushilft und von Krimi bis Roman alles verschlingt, weil sie „echt gerne“ liest, kann keinen ausmachen: „Keine Ahnung, wer diesmal gewinnt“, ist ihr ehrliches Fazit. Und wie zum Beweis verstaubt der neue Harry Potter tatsächlich unausgeliehen im Regal.

Harald Ille

Die „Kalbacher Klapperschlange“ wird immer am zweiten November-Wochenende während der Kinderbuchmesse in der Kalbacher Turnhalle verliehen. Weitere Informationen unter www.kinderverein-kalbach.de und unter www.kalbacherklapperschlange.de.

[Dieser Artikel ist im September 2004 als „Wochendienst“ des Presse- und Informationsamtes erschienen.]

Harald Ille

Zwölf Jahre war ich Corporate Communicator einer deutschen Großstadt. Kommunale Kommunikation liegt mir weiter am Herzen.