Harald Ille
am
11. Januar 2012

600 Millionen Volt bei klirrender Kälte

Das Institut für Angewandte Physik (IAP) der Frankfurter Universität räumt das wieder weg, was mit Otto Hahns Entdeckung über die Welt gekommen ist: extrem langlebiger radioaktiver Müll 600 Millionen Volt bei klirrender Kälte.

Frankfurter Physiker nehmen sich des Atommülls an – indem sie ihn beschießen

Frankfurt am Main (pia) Wenn man sich diese Begriffe einfach auf der Zunge zergehen lassen könnte, wäre ja alles nicht so schlimm: Pluto- und Neptunium, Americium und Curium. Diese Stoffe sind jedoch höchst giftig, hoch radioaktiv und haben zudem die übermenschliche Eigenschaft, beinahe ewig zu existieren. Der Physiker Holger Podlech von der Goethe-Universität möchte den strahlenden AKW-Hinterlassenschaften nun den Garaus machen: durch einen indirekten Beschuss des Mülls mit Wasserstoffkernen, also Protonen aus einem Teilchenbeschleuniger.

Geologische Zeitskalen

Die Zeiträume, in denen manche radioaktive Substanzen vor sich hinstrahlen, sind unvorstellbar: Thorium etwa hat eine Halbwertszeit von 14 Milliarden Jahren – genauso alt soll unser Universum sein. Das häufigste Isotop von Plutonium (Pu-244) muss immerhin 80 Millionen Jahre lang Strahlung aussenden, bis sich die Hälfte des hochgiftigen Stoffes in Uran-240 umgewandelt hat – und das dann seinerseits ungerührt weiter strahlt. Holger Podlech verspricht, diese gigantischen Zahlen drastisch zu verkürzen – auf geradezu mickrig erscheinende zweihundert, höchstens dreihundert Jahre: „Wir reduzieren die Zeitskala von geologischen auf nur noch historische Dimensionen.“

Das Gegenteil eines Kernkraftwerks

Die Methode dazu ist schon vor etwa 30 Jahren theoretisch ersonnen worden – aber die Technik wurde erst in den letzten Jahren entwickelt. Das IAP Frankfurt, das bei Beschleunigern niedriger und mittlerer Energien weltweit die Nummer 1 ist, hat dabei maßgeblichen Anteil. „Transmutation“ nennt sich das Verfahren, das mit den Naturgesetzen der Kernspaltung quasi „Billard spielt“. Die bunten Kugeln sind Blei- und Wismut-Atome, die kontinuierlich mit Protonen beschossen werden; der physikalisch nötige Umweg, um freie Neutronen zu erhalten. Der Beschuss löst eine Kettenreaktion aus, die ähnlich wie in einem Kernreaktor abläuft: Die freien Neutronen suchen sich die Atomkerne in den „Brennstäben“ und spalten sie. Der Unterschied zur Stromerzeugung in einem Kernkraftwerk ist, dass in den Brennstäben der Brennstoff steckt, im Transmutations-Reaktor jedoch ihr Gegenteil: der hunderttausende von Jahren strahlende Müll.

Beschleunigter Zerfall

Die Kernreaktionen zerlegen den zähen Abfall in diverse kurzlebige Isotope, die nur noch Tage und Wochen, allerhöchstens jedoch ein paar Dutzend Jahrzehnte strahlen. Der „Queue“, der die Karambolage anstößt, ist ein 250 Meter langer Teilchenbeschleuniger. Er besteht grob aus zwei Abschnitten: Zwei parallel arbeitenden Injektoren, die den Protonenstrahl erzeugen und die Teilchen auf zwanzig Prozent Lichtgeschwindigkeit katapultieren, und einem 235 Meter langen Haupt-beschleuniger, der dem Strahl dann richtig Feuer gibt – und selbst mächtig unter Strom steht: die Beschleunigungsspannung beträgt unfassbare 600 Millionen Volt!

Feinstmechanik made in Frankfurt

Diese Injektoren sind die Frankfurter Spezialität im weltweiten Beschleuniger-Business – selbst das CERN in Genf benutzt Frankfurter Protonenkanonen, die den Teilchenstrahl erzeugen, bevor er im unterirdischen Riesenring immer schneller Richtung Lichtgeschwindigkeit gesaugt wird. „Einen Beschleuniger zu bauen, ist nicht trivial“, sagt der Wissenschaftler, der erst am neuen Frankfurter Uni-Campus Riedberg den Platz und die technischen Möglichkeiten hat, seine hochkomplexen Apparaturen für das Allerkleinste zusammenzuschrauben und zu testen. Denn: Alles muss bis ins kleinste Detail hinein passen. Würde sich ein unsichtbares Staubkorn im Beschleuniger verirren, könnte dies zu einem Ausfall führen. Dies darf nur wenige Mal im Jahr passieren, um den Reaktor langfristig nicht zu beschädigen. Die Physik auf atomarer Ebene ist ohnehin eine Wissenschaft für sich.

Hochtechnologie am Nullpunkt

Um den Beschleuniger zu betreiben, muss er ständig mit Hochfrequenzleistung gefüttert werden. Um die dabei auftretenden Verluste und damit die Betriebskosten möglichst niedrig zu halten, setzt Holger Podlech daher auf supraleitende Materialien, bei denen der elektrische Widerstand wundersam verschwindet und die daher extrem effizient sind. Nachteil: Sie müssen auf eine Temperatur nahe dem absoluten Nullpunkt heruntergekühlt werden – und sie kosten entsprechend: 100.000 Euro alleine das Metall für eine 60 Zentimeter kurze Beschleunigereinheit, Niob. Flüssiges Helium kühlt das Protonenkatapult, das zudem von einem Vakuum umhüllt sowie mit flüssigem Stickstoff und Spezialfolien aus der Raumfahrt geschützt ist.

Müll entsorgen und Strom erzeugen

Noch arbeitet Holger Podlech an Prototypen für die erste Atommüll-Entsorgungs-Versuchsanlage MYRRHA, mit deren Bau in den nächsten drei Jahren in Belgien begonnen werden soll und die rund eine Milliarde Euro kosten wird. Klappt dort alles, wäre der Weg frei für eine ordentliche Transmutationsanlage, die den Atommüll von zehn AKW „verdauen“ und dabei – das ist die Besonderheit – sogar selbst noch Strom produzieren könnte. Denn in den „abgebrannten Elementen“ steckt noch ungeheuer viel Energie: Der Beschuss der Transurane setzt zehnmal mehr frei als der Teilchenbeschleuniger seinerseits benötigt.

Abgeklungen zurück ins Bergwerk

Etwa 440 Atomkraftwerke gibt es derzeit weltweit, die rund 8.000 Tonnen strahlenden Müll im Jahr hinterlassen – und weltweit ist kein Endlager in Sicht. Vielleicht ist auch keins mehr nötig, denn der Atommüll der Welt würde nach dem Beschuss aus Podlechs Protonenkanone in eine Halle passen, die kaum größer ist als der Neubau auf dem Riedberg, in dem sein Prototyp derzeit steht. Dort würde er ein paar Jahrzehnte abklingen und könnte dann unschädlich wieder dahin gebracht werden, wo er einstmals herkam: ins Bergwerk.

Harald Ille

Harald Ille

Zwölf Jahre war ich Corporate Communicator einer deutschen Großstadt. Kommunale Kommunikation liegt mir weiter am Herzen.